Der Zwillings-Boom



Die blonden Mädchen, die sich zufällig im Ferienlager treffen, gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Die stille, ernste Lotte, die bei ihrer Mutter in München lebt, und die muntere, selbstbewusste Luise, die beim erfolgreichen Musiker-Papa in Wien aufgezogen wird. Im Kinderbuch „Das doppelte Lottchen“ von Erich Kästner finden beide Mädchen heraus, dass sie Zwillinge geschiedener und getrennt lebender Eltern sind und führen die Familie wieder zusammen.

Eigentlich müssten sich derartige Geschichten inzwischen in der Realität häufiger ereignen. Denn nicht nur der Prozentsatz der getrennt lebenden Elternpaare, sondern auch der der Zwillingspaare hat sich seit Mitte des vorigen Jahrhunderts deutlich erhöht. In Deutschland seit dem Jahr 1970 um rund 40 Prozent. Wie das Statistische Bundesamt mitteilt, kamen im Jahr 2014 bei 13 270 der insgesamt 715 000 Geburten Mehrlinge, meist Zwillinge, auf die Welt. 1975 waren es bei gesamtdeutsch weit über einer Million Geburten nur 7200.
Ein deutscher Arzt fand die Zwillings-Regel

Im Jahr 1895 hatte der deutsche Arzt Dionys Hellin es aufgrund seiner Berechnungen noch für eine Art Naturgesetz gehalten, dass auf rund 85 Schwangerschaften eine Zwillingsschwangerschaft komme, die Formel für Drillingsgeburten eins zu 85 hoch zwei betrage und die der Vierlinge eins zu 85 hoch drei. Dabei ist eine solche Formel schon deshalb schwierig, weil Mehrlings-Schwangerschaft nicht gleich Mehrlings-Geburt bedeutet: Zahlreiche Mehrlings-Schwangerschaften enden vorzeitig, oft wird am Ende nur ein Kind geboren.

Ein wichtiger Grund dafür, dass die Hellin-Regel außer Kraft gesetzt ist, liegt auch in der Reproduktionsmedizin. Bei der In-vitro-Fertilisation (IVF) und der Intracytoplasmischen Spermieninjektion (ICSI) werden im Labor des Fortpflanzungsarztes schließlich oft zwei bis drei Eizellen befruchtet, um die Erfolgschancen zu erhöhen. Zumindest in Deutschland. „Durch die Methode der gezielten Übertragung eines einzelnen Embryos in die Gebärmutter konnte in den skandinavischen Ländern die Mehrlingsrate nach IVF oder ISCI deutlich gesenkt werden“, sagt Jan-Steffen Krüssel von der Universität Düsseldorf. Dass er „konnte“ sagt, bezieht sich auf die medizinischen Risiken, die jede Mehrlingsschwangerschaft für Mütter und Kinder in sich birgt. „Als Gynäkologen haben wir deshalb das Wunschziel, dass möglichst viele Schwangerschaften mit der Geburt eines einzigen Kindes enden.“ Auch wenn immer wieder medienwirksam über die geglückte Entbindung von Drillingen oder sogar Fünflingen berichtet wird.
Künstliche Befruchtung führt zu Mehrlingsgeburten

In solchen Fällen könne man mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass eine reproduktionsmedizinische Maßnahme angewandt wurde, sagt Krüssel. Das Deutsche IVF-Register, in dem über alle IVF- und ISCI-Behandlungen Buch geführt wird, zeigt allerdings, dass in den letzten Jahren aus den Behandlungen jeweils knapp 3000 Mehrlingsgeburten resultierten, also nur ein gut ein Fünftel der Gesamtzahl.

Die Zunahme von Zwillingen und Drillingen lässt sich aber nicht nur damit erklären, dass immer mehr Paare solche Behandlungen in Anspruch nehmen. Auch das Alter der Frauen, die ohne reproduktionsmedizinische Hilfe schwanger werden, spielt eine Rolle. Hier scheint in der Natur ein „Wenn schon, denn schon“-Prinzip zu gelten: Mit den Jahren nimmt nämlich einerseits die Fruchtbarkeit ab, andererseits steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau auf einen Schlag zweifache Mutter wird.

Vom „Paradox der abnehmenden Fertilität bei wachsenden Zwillingsraten mit zunehmendem Alter der Mutter“ schrieben Reproduktionsmediziner vom Medical Center der Vrije University in Amsterdam 2006 in der Fachzeitschrift„Human Reproduction“. Sie hatten bei 507 Frauen zwischen 24 und 41 Jahren in insgesamt 959 Monatszyklen per Ultraschall Anzahl und Größe der Eibläschen untersucht, die die Eizellen enthalten. Bei 105 der Frauen reiften mehrere dieser Follikel heran, was vermehrt dazu führte, dass gleich mehrere Eizellen die Eierstöcke verließen, in die Eileiter wanderten und zur Befruchtung bereit waren. Die Frauen, bei denen die Ärzte solche Mehrfach-Eisprünge beobachteten, waren im Schnitt etwas über 36 Jahre alt.
Mehr Eier: Das Gehirn kontert das Altern aus

Der vermeintliche Widersinn des doppelten Kindersegens bei langsam sinkender Fruchtbarkeit hat einen plausiblen Grund: Erfährt die zentrale Schaltstelle im Gehirn, die Hirnanhangdrüse (Hypophyse), dass in den Eierstöcken der Frau weniger Follikel heranreifen, so steuert sie mit mehr Follikel-stimulierendem Hormon (FSH) gegen. Tatsächlich war die FSH-Konzentration bei niederländischen Frauen erhöht, bei denen im Ultraschall mehrere herangereifte Follikel zu sehen waren.

Doch auch junge Frauen bekommen Zwillinge. Und in so manchen Familien gibt es auffallend viele Mehrlingsgeburten. In Nigeria und Benin, wo Frauen früh Mutter werden, ist jedes zwölfte Kind ein Mehrling, in Asien nur jedes 70. Kind. Dass Vererbung mit im Spiel ist, liegt auf der Hand. Trotzdem gibt es möglicherweise eine Verbindung zwischen dem Paradox und dem familiär gehäuften Zwillings-Segen. „Die derzeitige Vermutung ist, dass Mutationen auf Chromosom 2, die die Andockstelle für FSH betreffen, der Grund sind“, sagt Krüssel. Sowohl das Alter als auch das Erbe der Mutter können demnach dazu beitragen, dass sich aufgrund eines Anstiegs des Hormons in einem Monat mehrere Eisprünge ereignen.
Eineiige Zwillinge sind selten wie eh und je

Kinder aus einer Familie, die an ein und demselben Tag Geburtstag feiern, sind in vielerlei Hinsicht besondere Geschwister. Doch zum Verwechseln ähnlich sind sie sich meist nicht. Denn nur eine kleine Minderheit von vier unter 1000 Babys entstammt einer einzigen befruchteten Eizelle, die sich erst später teilte. Auch durch das höhere Durchschnittsalter der Schwangeren und die moderne Reproduktionsmedizin hat sich an der Anzahl dieser eineiigen Zwillinge nichts geändert.

Zwischenzeitliche Vermutungen, dass sich befruchtete Eizellen mit größerer Wahrscheinlichkeit teilen, wenn sie mehrere Tage in einem Kulturmedium im Reagenzglas bleiben, haben sich nicht bestätigt. Eindeutig gestiegen ist dagegen die Zahl der Kinder, die genetisch nicht enger verwandt sind als alle anderen Geschwister. Echte „doppelte Lottchen“, die ihr Verwirrspiel mit der Umwelt treiben, werden dagegen wohl weiterhin selten bleiben.

Es gibt keine absolute Unfruchtbarkeit!

Quelle: http://www.tagesspiegel.de/wissen/geburtentrend-der-zwillings-boom/13038198.html?pageNumber=0&ajaxelementid=%23commentInput

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